Altona Magazin
Die Wirbelsäule Ottensens
« Sie hatte immer Spaß an Veränderungen, nur nicht auf Zwang. Früher hieß sie anders – das verraten Dokumente aus der Zeit vor 1945. Nach dem zweiten Weltkrieg führte sie ein neues Leben unter neuem Namen: Ottenser Hauptstraße. » Diese Chronik wurde im Auftrag von Altona Magazin verfasst und später vom Stadtmagazin Szene Hamburg wiederveröffentlicht.
Text und Fotos:
Evan Romero
Fröhlich sitzen die Jugendlichen da, wo die Nöltingstraße die Ottenser Hauptstraße küsst – wie kleine Aristokraten in den Gärten von Sanssouci. Sie qualmen, sie quatschen, sie kichern. Caffellatte fest im Griff jagen sie jeden Sonnenstrahl vor der Reh Bar. Wohnen sie um die Ecke oder kommen sie aus anderen Bezirken? Schwer zu sagen. Gefällt ihnen das alte Altona-Flair hier? Offensichtlich. Verschwenden sie daran Gedanken, ob diese Kreuzung immer so liebenswürdig war, wie sie heute ist? Unwahrscheinlich. Mit so einem Rückblick quält sich nur, wer alt genug dafür ist, Ottensens vergangenem Reiz nachzutrauern. Eher sollte man sie fragen, wozu sie bereit wären, um die Wirbelsäule Ottensens so zu erhalten, wie sie sie jetzt kennen. An der Antwort der jungen Flaneure wäre Vanessa Hirsch interessiert, denn die Kuratorin der Ausstellung 350 Jahre Altona vom Altonaer Museum hält den Widerstand gegen willkürliche Stadtteilumwandlungen für ein wichtiges Element der Ottenser Geschichte. Ob der Mut dazu heute vorhanden ist? „Im zweiten Weltkrieg wurde das historische Altona fast völlig zerstört, aber das Arbeiterviertel Ottensen ist von den Bombardements kaum betroffen gewesen. Die alten Häuser und Mietskasernen aus dem neunzehnten Jahrhundert sind stehengeblieben nach 1945. Die Mieten waren allerdings relativ billig, weil so viele Gebäude unsaniert waren. Viele Bewohner sind in die Neubauten mit Zentralheizung weggezogen, die Mieten sanken noch tiefer und dann sind jüngere Leute mit weniger Ressourcen zugezogen – Studenten und Arbeiter, Deutsche und Migranten, vor allem Türken. Ab den sechziger Jahren ist diese Gegend langsam multikulturell geworden. Und diese besondere Konstellation von Menschen mischte sich immer überall ein, wo es um ihr Viertel und den Erhalt von den Altbauten ging. Die Stadtplaner wollten weite Teile der historischen Bausubstanz in Ottensen komplett abreißen, weil diese Ecke Hamburgs für sie eine Art Slum war. Ihre Vorhaben waren richtig gigantisch. Aber als sie die Pläne vorlegten, wunderten sich alle, weil die Ottenser entsetzt reagierten. Zum ersten Mal in der Hamburger Nachkriegsgeschichte wehrten sich die Bürger gegen Baupläne und Stadtbaukonzepte der Landesregierung. In den Siebzigern haben sie unterschiedliche Initiativen, Unterschriftsammlungen, Kollektive, Demos und neue mediale Sprachrohre ins Leben gerufen – es waren die ersten Bürgerbeteiligungen dieser Art in Hamburg nach dem Krieg. Und jene Protestformen sind der Ursprung dieses Lebensgefühls in Ottensen, dass man nicht alles mit sich machen lässt, gerade wenn es um Stadtplanung geht. Jene Initiativen waren erfolgreich – dank ihnen ist Ottensen überhaupt so, wie wir es heute kennen und schätzen“, erzählt Hirsch in einem leidenschaftlichen Atemzug. Die Ottenser vermieden, dass ihre Heimat sich ins westliche Pendant vom Büro- und Gewerbezentrum City Nord verwandelte, dass eine vierspurige Stadtautobahn durch sein Herz lief, dass der sogenannte „Kemal-Altun-Platz“ komplett zugebaut wurde... Selbst der Umbauprozess der Zeise Hallen wurde von den Ottensern kritisch begleitet, weil sie keine Schickeria in ihrer Nähe haben wollten. Danach kamen die Konflikte direkt auf der Ottenser Hauptstraße: das Getümmel gegen den Aufbau vom Einkaufszentrum Mercado und für den Erhalt des Bismarckbades. „Auch ich finde die Veränderungen der Ottenser Hauptstraße zum Teil fragwürdig“, meint Christian König, der dort ein Café eröffnete. „Aber jetzt mal ehrlich“, sagt der Unternehmer, „die Gentrifizierung wurde schon von der älteren Generation von Einwohnern dieses Stadtviertels in Gang gebracht. Ich spreche jetzt von denjenigen, die in den Siebzigern und Achtzigern für kleines Geld ihre Wohnungen und manchmal ganze Miethäuser gekauft haben, als sie Studenten oder junge Lehrer und Ärzte waren. Als sie jung waren, wollten sie anders als die anderen sein, aber seitdem sie alle irgendwie lange im Beruf sind und relativ viel Geld verdienen, wollen sie genau das in ihrem Stadtviertel haben, warum sie sonst irgendwo anders hingegangen sind – schön essen, einen guten Wein kaufen, einen leckeren Kaffee trinken, so ein Lebensgefühl wie auf den Straßen von Italien erleben... Sie haben damit in den Neunzigern angefangen und jetzt haben sie, was sie wollten“, argumentiert der Besitzer vom Café König. Für manche war Königs Lokal der Inbegriff vom verpönten Schickimicki schon bei seiner Eröffnung im Jahr 2001. Teilt der Gastronom nicht den Eindruck, dass er zur Aufwertung der Ottenser Hauptstraße und zum Verlust ihres raueren Charakters beigetragen hat? „Nein“, antwortet er. „Nur weil mein Laden ein bisschen schöner eingerichtet war als irgendeine Kaschemme um die Ecke, war er nicht der Katalysator der Gentrifizierung. Schon vor fünfzehn Jahre waren die Mietpreise auf der Ottenser Hauptstraße hoch, weil sie so lebendig und attraktiv war“, versichert König, dessen Nachbarschaftscafé mittlerweile in die Bahrenfelder Straße umgezogen ist. „Trotz allem gibt es nach wie vor Geschäfte auf der Ottenser Hauptstraße, die eher von Stammkunden des Viertels besucht werden und nicht nur von Einkauf- oder Nachtschwärmern. Das Café Mar y Sol hat sein festes Publikum seit Jahrzehnten. Das Reh Café gibt es seit langem und erst jetzt wird es langsam zu einer Szene-Kneipe, die über die Grenzen des Stadtteils hinaus bekannt ist“, behauptet König, ein Othmarscher Jung, der dem Magnetismus dieser Straße nicht widerstehen konnte. „Übrigens, vor dem Krieg hieß sie anders! Das verraten Stadtpläne aus der Zeit vor 1945. Die Strecke zwischen Altona Bahnhof und dem Spritzenplatz hieß Bismarckstraße. Vom Spritzenplatz bis zum Alma-Wartenberg-Platz lief die Papenstraße“, schildert Vanessa Hirsch vom Altonaer Museum.
Hat die Ottenser Hauptstraße ihre „goldene Ära“ schon hinter sich, wie viele beklagen? Die Antwort auf diese Frage variiert, je nach dem mit wem man spricht. Für Zeitzeugin Christiane Schebetz war ihr Belle Époque in den Achtzigern. „Ich wohnte in der Arnoldstraße, verbrachte aber viel Zeit auf der Ottenser Hauptstraße. Heutzutage sieht man die Punks fast vereinzelt mit ihren Hunden in der Nähe des Spritzenplatzes, aber in den Achtzigern gab es dort eine große Punk-Szene. ‚Hast du mal eine Mark?‘, hörte ich oft von ihnen, wenn ich zum Markt ging. Es war ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber ich habe mich nie von ihnen bedroht gefühlt. Irgendwann gehörten sie zum Viertel, auch wenn sie hier nicht wohnten. Damals war Ottensen sowieso unbeliebt und als eine Zone bekannt, wo man nicht wohnen sollte. Es hatte allerdings die günstige Nähe zur Elbe, den Vorteil vom Kaufhaus Herti, wo man alles Mögliche für relativ wenig Geld kaufen konnte, und die nette Stimmung auf dem Boulevard, wo die Leute um die Pappeln herum saßen. Heute gibt es Cafés überall, aber zu der Zeit gab es eine Bäckerei, wo die Rentner sich miteinander stundenlang unterhalten haben, und den Tschibo-Laden, wo man für fünfzig Pfennig einen Milchkaffee trinken konnte. Es gab weder schöne Tische noch bequeme Stühle draußen, aber dieses Unfertige, dieses Unperfekte, hatte für mich viel Charme. Weiter nach Westen, Richtung Spritzenplatz, traf man früher ein riesiges türkisches Gemüsegeschäft. Und da, wo die Ottenser Hauptstraße befahren ist, gab es ein deutsches Fruchthaus und eine ganz alte und skurrile Drogerie, wo ein kleiner Mann mit weißem Kittel alles Mögliche verkaufte, von Medikamenten bis zum Waschmittel und Farben. Zwischen den Läden der Straße gab es größere Kontraste als heute“, bedauert Schebetz. „Arm mit Charme“ liegt jetzt woanders. Nicht desto trotz ist die Ottenser Hauptstraße nach wie vor eine Achse des guten Lebens. König ergänzt: „Es wird immer wenig geliebte Viertel geben, die einen zeitweiligen Schwung erleben. Vor vierzig Jahren war Eppendorf spießig, völlig überaltert und überhaupt nicht das schicke lebendige Viertel, dass es heute ist. Winterhude war auch nicht immer ein Hingucker. Morgen kommt vielleicht der Boom von Bahrenfeld, Wilhelmsburg oder endlich Barmbek. Mal sehen wo die Karavane weiter hinzieht“.